Für ganz viele Menschen ist es völlig klar, dass Übergewichtige selbst schuld sind an ihrem Zustand. Sie könnten schließlich mal disziplinierter sein beim Essen und überhaupt wäre es ja mit dem nötigen Willen ganz einfach, abzunehmen.
Solche, manchmal auch unausgesprochenen, impliziten Beschuldigungen kommen nicht nur von schlanken Menschen.
Zwei Aspekte fallen auf: Zum einen glauben auch viele Übergewichtige, dass sie selbst schuld seien. Zum anderen glauben viele, sie müssten Schuldzuweisungen aussprechen, obwohl sie selbst überhaupt nicht zu Schaden gekommen sind.
Die Schuld am Übergewicht ist etwas ungleich verteilt. Ein paar Anmerkungen zu Gründen und Ursachen.
Inhalt
- Schuld und Schuldgefühle
- Die Anderen sind schuld!
- Die Schuld am Übergewicht
- Der vermeintliche Schaden durch Übergewicht
- Der Glaube, selbst schuld zu sein am Übergewicht
- Gründe für Übergewicht
- Lebensmittel sind überall
- Industriell hergestellte Lebensmittel
- Bewegungsmangel
- Stress
- Warum sind nicht alle dick?
- Warum ist Abnehmen so schwer, und was hat das mit der Schuldfrage zu tun?
- Übergewicht in der Familie
- Ist Übergewicht also Schicksal?
Schuld und Schuldgefühle
Weil wir Menschen nicht perfekt sind, kommt es vor, dass wir Fehler machen und dann an den Folgen schuld sind.
Es gehört zum Erwachsensein, dass wir zu unseren Fehlern stehen und die Schuld zugeben. Dass wir versuchen, die Verantwortung zu übernehmen und für den Schaden geradezustehen.
Und vor allem dann, wenn es uns nicht gelingt, oder es vielleicht gar nicht möglich ist, für den Schaden geradezustehen, erleben wir unangenehme Schuldgefühle. Oft zusammen mit Scham, jetzt mit einem Makel behaftet zu sein, und Angst vor Strafe.
Schuld zu sein an egal was ist den meisten von uns ziemlich unangenehm. Genau dadurch trägt es aber dazu bei, dass wir versuchen, solche Situationen zu vermeiden, was für die Regelung unseres Zusammenlebens ziemlich nützlich ist.
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Denn wir versuchen zu vermeiden, an egal was schuld zu sein. Oder anders, wir, oder jedenfalls die meisten von uns, versuchen, sich korrekt und anständig zu verhalten.
Das Ganze hat allerdings eine Kehrseite.
Die Anderen sind schuld!
Schuldig zu sein ist sehr unangenehm. Es fühlt sich so viel besser an, wenn jemand anderes schuld ist.
Das führt zum einen dazu, dass Menschen nicht zugeben, wenn sie etwas falsch gemacht haben.
Und zum anderen dazu, dass sie andere beschuldigen.
Das kann nützlich sein, wenn es dazu beiträgt, dass der wahre Schuldige gefunden wird.
Aber es kann auch destruktiv sein, wenn Schuldzuweisungen willkürlich ausgesprochen werden, nur um die Schuld von sich selbst fernzuhalten.
Die Schuld am Übergewicht
Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit die Überzeugung vertritt, dass insbesondere starkes Übergewicht, Adipositas, selbstverschuldet ist.
Diese Überzeugung wird nicht nur von Schlanken geteilt, sondern auch von Menschen, die selbst übergewichtig sind.
Nach dieser Überzeugung ist an der Tatsache, dass inzwischen mehr als die Hälfte der Menschen in den Industrienationen und ein Drittel der Menschen weltweit übergewichtig ist, jeder Einzelne ganz persönlich selbst schuld.
Das sieht nach Schuldzuweisungen aus für etwas, an dem die Beschuldigten eben nicht selbst schuld sind.
Der vermeintliche Makel, das Übergewicht, ist zwar für alle sichtbar. Aber daraus folgt eben nicht, dass es auch die Schuld der Betroffenen ist.
Hinzu kommt, dass das Übergewicht zwar sichtbar ist. Aber es gar nicht so einfach ist, zu begründen, worin der Schaden bestehen soll.
Und vor allem, worin der Schaden bestehen soll, den Person A hat, wenn Person B übergewichtig ist.
Der vermeintliche Schaden durch Übergewicht
Wer mehr wiegt, als dem Schönheitsideal entspricht, muss sich oft rechtfertigen. Angeblich wären die Gesundheits- und Krankheitskosten höher als bei normalgewichtigen Menschen.
Und weil Krankenkassenbeiträge von allen getragen werden müssen, würden die Übergewichtigen der Gemeinschaft schaden.
Selbst wenn das stimmen würde (was es nicht tut), dann müsste man die gleiche Logik auch auf Untergewicht, Alkohol- und Tabakgenuss, Drogengebrauch, riskante Sportarten, schnelles Autofahren, stressige Lebensweise und viele andere riskante Verhaltensweisen anwenden.
Das steht offensichtlich nicht zur Debatte. Trotzdem bleiben die Schuldzuweisungen an Übergewichtige weit verbreitet, obwohl die meisten Menschen auch die Möglichkeit hätten, sich stattdessen um ihre eigenen Angelegenheiten zu kümmern.
Der Glaube, selbst schuld zu sein am Übergewicht
Die verbreiteten Schuldzuweisungen, zusammen mit Diskriminierungen und dem unübersehbaren „Makel“ des Übergewichtes tragen dazu bei, dass sich viele Übergewichtige für ihr Gewicht schämen, dass sie glauben, tatsächlich selbst schuld zu sein.
Dass sie die gescheiterten Diäten und Abnehmversuche als ihr persönliches Versagen ansehen.
Und das, obwohl Übergewicht so weit verbreitet ist.
Mehr als jeder Zweite ist zu dick. Könnte es vielleicht doch sein, dass es noch etwas anderes gibt, außer dem persönlichen Versagen?
Gründe für Übergewicht
Die Zahl der Übergewichtigen steigt erst seit wenigen Jahrzehnten stark an, genauso wie die Ausprägung des Übergewichtes.
Es gibt nicht nur immer mehr Dicke, sondern auch die einzelnen Menschen wiegen im Durchschnitt immer mehr. Adipositas ist ganz alltäglich geworden, obwohl es noch vor wenigen Jahren absolut selten vorkam.
Was hat sich geändert in den letzten Jahrzehnten, in denen diese Veränderungen so offensichtlich geworden sind?
- Lebensmittel sind im Überfluss vorhanden
- Viele Lebensmittel werden industriell hergestellt
- Bewegungsmangel
- Stress
Lebensmittel sind überall
Den größten Teil der Menschheitsgeschichte war die Essensbeschaffung eine Aufgabe, die den größten Teil des Tages in Anspruch nahm. Und der Erfolg war alles andere als garantiert.
Heute jagen und sammeln wir im Supermarkt, mühelos, bei gigantischer Auswahl, eher niedrigen Preisen und allgegenwärtiger Werbung, die uns suggeriert, dass wir immer noch mehr essen sollten.
Überall und permanent wird uns eingeredet, wir müssten nicht nur zu Hause, sondern auch zwischendurch und auf der Straße essen.
Industriell hergestellte Lebensmittel
Lebensmittel sind heute günstig bis billig. Das liegt aber zu einem großen Teil an der industriellen Herstellung.
Die Lebensmittelindustrie hat das Ziel, uns möglichst viel von möglichst billigen Nahrungsmitteln möglichst teuer zu verkaufen.
Ein großer Teil der industriell hergestellten Lebensmittel gaukelt uns dementsprechend etwas vor, was nicht der Fall ist.
Sie erwecken den Anschein, gesund und nährstoffreich zu sein, während sie in Wirklichkeit aus süchtig machenden Zucker-Fett-Mischungen bestehen, die mit Zusatzstoffen so aufgepeppt werden, dass man die Mogelei nicht bemerkt.
Lebensmittel, die mit Natur nicht mehr viel zu tun haben. Die in den Laboren der Lebensmittelindustrie auf maximales Verlangen optimiert wurden.
Die mit dem „Geschmack nach mehr“ ausgestattet sind, den es in der Natur nicht gibt.
Die Werbung für diese Lebensmittel ist allgegenwärtig. Werbung für tatsächlich gesunde Produkte sieht man dagegen selten bis gar nicht.
Hinzu kommt, dass gutes Essen auch heute noch eher teuer ist, während das, was uns von der Werbung als gesund und lecker angepriesen wird, oft nicht wirklich gut ist.
Nicht jeder durchschaut die Tricks der Werbung, ist der, der es nicht tut, automatisch selbst schuld?
Ist jeder selbst schuld, der unter Stress und Zeitdruck nicht spontan durchschaut, was hochqualifizierte Marketingabteilungen großer Konzerne uns präsentieren?
Auch von der Politik ist nicht wirklich Hilfe zu erwarten. Gesetze ermöglichen ja erst die Handlungsweisen der Lebensmittelindustrie, die in vielen Fällen gerade darauf zielen, uns etwas vorzugaukeln, was nicht der Fall ist.
Bewegungsmangel
Die Zahl der Menschen, die in ihren Berufen den ganzen Tag sitzen, nimmt immer weiter zu. Und auch Berufe, bei denen sich manuelle Arbeit nicht ganz vermeiden lässt, werden immer stärker von Maschinen unterstützt und übernommen.
Die meisten Menschen haben keine Möglichkeit, sich bei der Arbeit zu bewegen.
Gleichzeitig werden Wege immer länger. Kaum jemand wohnt in der Nähe seiner Arbeitsstätte. In der Folge werden Wege kaum noch zu Fuß zurückgelegt.
Zeit für Sport ist nach einem langen Arbeitstag mit langem Arbeitsweg auch nicht mehr viel. Alles das kann der Einzelne kaum ändern.
Stress
Stress macht dick. Die heutige Lebensweise mit ständiger Erreichbarkeit, langen Arbeitszeiten und Arbeitswegen, und oft auch als ausweglos erlebten Lebenssituationen ist enorm stressig.
Es bleibt kaum Zeit, sich um gutes Essen zu kümmern, Freundschaften zu pflegen, Hobbys nachzugehen, Sport zu treiben und einfach mal nichts zu tun. Lebensqualität bleibt auf der Strecke.
Ungesunde Ernährung, Bewegungsmangel, Stress. Alle diese Punkte tragen dazu bei, dass das Risiko, dick zu werden, ansteigt.
Auf alle diese Dinge hat der einzelne Mensch nur sehr begrenzt Einfluss.
Wer arbeiten muss, um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, findet sich schnell in einer Situation wieder, in der sich nichts von diesen Dingen kontrollieren lässt.
Warum sind nicht alle dick?
Während die gesellschaftlichen Randbedingungen für alle gleich sind, sind die Möglichkeiten, darauf zu reagieren, höchst unterschiedlich verteilt.
Zum einen ist es eine Frage der Privilegierung, manche haben einfach mehr Geld, können mehr für Essen und Ernährung ausgeben, können vielleicht auch Stress und Zeitmangel eher durch den Kauf von Dienstleistungen vermeiden.
Bildung scheint auch eine Rolle zu spielen, denn wer die Machenschaften der Werbung durchschaut, wird natürlich nicht mehr so leicht darauf hereinfallen.
Aber auch die Lerngeschichte spielt eine Rolle. Wer von Kind auf gelernt hat, dass Essen das beste Mittel gegen Stress, Ärger, schlechte Laune und Kummer ist, der wird es schwer haben, in solchen Situationen eben nicht zu essen.
Auch die allgemeine Lebensperspektive spielt eine Rolle.
Wer sowieso keine Chance hat oder keine Chance für sich sieht, dem wird es ziemlich egal sein, ob durch Übergewicht der Benachteiligung noch ein Aspekt hinzugefügt wird oder nicht.
Depressionen und Hoffnungslosigkeit lähmen natürlich die Handlungsmöglichkeiten.
Hinzu kommen eher seltene Gründe für Übergewicht, die aber zusammengenommen eben auch eine Rolle spielen.
Es gibt Medikamente mit dickmachenden Nebenwirkungen, es gibt hormonelle Fehlsteuerungen und genetische Defekte und Dispositionen.
Wer Medikamente nehmen muss, der hat oft nicht die Möglichkeit, sich einfach anders zu entscheiden, der Preis wäre schlicht zu hoch.
Man kann auch schlecht von Schuld am Übergewicht sprechen, wenn der eigene Körper bestimmte Hormone oder Botenstoffe nicht oder nicht richtig herstellt oder verarbeitet.
Natürlich muss man hier aufpassen, dass man das nicht als Ausrede verwendet, aber es gibt einen wahren Kern.
Zu viel und zu ungesundes Essen und Übergewicht sind Symptome der krankmachenden Aspekte der modernen Lebensweise.
Andere mögliche Symptome sind Alkohol- und andere Süchte, stressbedingte, „psychosomatische“ Erkrankungen oder auch Medikamentenmissbrauch.
Die Liste ist sicherlich nicht vollständig. Die Zahl der Betroffenen könnte aber deutlich höher sein.
Warum ist Abnehmen so schwer, und was hat das mit der Schuldfrage zu tun?
Fast alle Diäten und Abnehmprogramme gehen mehr oder weniger explizit von der Annahme aus, dass Übergewichtige selbst schuld an ihrem Zustand sind.
Wenn die grundlegenden Annahmen schon falsch sind, braucht man sich eigentlich nicht zu wundern, wenn es nicht funktioniert.
Viele nehmen allerdings für sich selbst auch an, Schuld am Übergewicht zu sein, sie fühlen sich als Versager, weil sie es nicht schaffen, abzunehmen.
Aber stimmt das überhaupt, ist es die eigene Schuld, wenn man zunimmt oder wenn man nicht abnimmt?
Wie meistens im Leben lautet die Antwort nicht einfach ja oder nein.
Tatsache ist aber, dass es Menschen gibt, die es leichter haben (im wahrsten Sinne des Wortes) und Menschen, die es schwerer haben.
Die Mehrheit leidet doch eher darunter, den Veränderungen mehr oder weniger hilflos ausgeliefert zu sein, eben nichts tun zu können.
Übergewicht in der Familie
Dick wird man ja nicht, oder zumindest nicht nur aus eigenen Antrieb.
Viele Übergewichtige hatten schon als kleine Kinder Übergewicht, sind schon von Kind auf an ein dickmachendes Essverhalten, an eine dickmachende Lebensweise gewöhnt worden.
Ziemlich sicher gibt es eine genetische Disposition für Übergewicht, denn in der Vergangenheit war es einfach ein Vorteil, wenn man die Fähigkeit hatte, Reserven anzulegen.
Dass viele von diesen ehemals erfolgreicheren Vorfahren abstammen, liegt eher nicht in der Verantwortung des Einzelnen.
Und wann soll dann die Verantwortung beginnen? Der Säugling, das Kleinkind ist wohl nicht selbst verantwortlich, ist es das Schulkind, der Teenager?
Wann beginnt die Verantwortung, und warum hat der eine an seinem 18. Geburtstag so eine Last zu tragen, der andere nicht?
Ist Übergewicht also Schicksal?
Es lässt sich also festhalten, dass Übergewicht nicht einfach auf persönliche, individuelle Schuld der Betroffenen reduziert werden kann.
Trotzdem ist man als Übergewichtiger diesem Schicksal nicht hilflos ausgeliefert.
Wenn man die Mechanismen durchschaut, die dazu führen, dass immer mehr Menschen dick werden, dann kann man sich diesen Einflüssen zumindest teilweise entziehen.
Man kann einfach etwas anderes kaufen als das, was die Werbung anpreist, man kann zumindest teilweise seinen Stress reduzieren, indem man sich darauf besinnt, was wirklich wichtig ist und was nicht.
Man kann sich von diesem entweder-oder-Gedanken verabschieden, nach dem man entweder dick oder dünn ist.
Man kann stattdessen jedes einzelne verlorene Kilo als Erfolg ansehen, das gewonnene Wohlbefinden genießen.
Man kann akzeptieren, dass man zu denen gehört, die es schwerer haben und deshalb seine Ansprüche auf ein realistisches Maß herunterschrauben. Nicht jeder ist ein Model.
Sich von Schuldgefühlen zu befreien wird einfacher, wenn man versteht, wie die Schuld am Übergewicht eben nicht nur einfach bei einem selbst liegt.
Die Schlussfolgerung ist, dass wohl kaum ein Übergewichtiger selbst schuld an seinem Gewicht ist.
Allerdings wird es, selbst wenn die Schuldigen gefunden werden können, immer am Übergewichtigen selbst liegen, etwas zu ändern.
Eine realistische Einschätzung der Schwierigkeit der Aufgabe, zusammen mit der Erkenntnis, dass das Erreichen von Zwischenzielen echte Erfolge darstellen, machen Abnehmen möglich.
Auch wenn die Benachteiligung, es schwerer zu haben als andere, wohl ein Leben lang bestehen bleiben wird.